Scham und Schuld. Geschlechter(sub)texte der Shoah

Scham und Schuld. Geschlechter(sub)texte der Shoah

Organisatoren
Maja Figge / Sven Glawion / Konstanze Hanitzsch / Florian Kappeler / Nadine Teuber, DFG-Graduiertenkolleg "Geschlecht als Wissenskategorie, Humboldt-Universität zu Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
14.11.2009 - 15.11.2009
Url der Konferenzwebsite
Von
Dr. Eva Johach, Institut für Kulturwissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin; Sophia Könemann, PhD-Netzwerk „Das Wissen der Literatur“, Humboldt-Universität zu Berlin; Aline Oloff, DFG-Graduiertenkolleg „Geschlecht als Wissenskategorie“, Humboldt-Universität zu Berlin

Scham und Schuld konstituieren zentrale Narrationen, in denen die Verbrechen der Shoah erzählt werden. Verhandeln die Überlebenden ihre traumatischen Leiden, die unabschließbar sind, so kursieren auf der Täter/innen-Seite vielfältige Erzählungen, welche versuchen, die Shoah zu bannen, und/oder in ein nationales-deutsches Motiv verwandeln. Der Schwerpunkt der Konferenz „Scham und Schuld. Geschlechter(sub)texte der Shoah“ lag auf dem Umgang mit der Shoah und ihrer von Scham und Schuld bestimmten Erinnerung auf der Täter/innen-Seite. Dabei war das Ziel ein Doppeltes: sowohl die als Männer und Frauen schuldig Gewordenen als auch die im Erinnern und Verschweigen der Shoah zirkulierenden Gender-Codierungen rückten in den Fokus: Welcher Zusammenhang besteht zwischen diesen Gender-Codierungen und den Verbrechen der Shoah? Ist die Einnahme von Opferpositionen als verborgene Schuldabwehr- bzw. Ermächtigungsstrategie zu verstehen?

Auf der Konferenz, die auf einem Konzept von Konstanze Hanitzsch und Sven Glawion basierte, wurden vielfältige – oft auch kontroverse – Perspektiven aus den Literatur-, Kultur-, Geschichts- und Sozialwissenschaften aufgenommen. Den Organisatoren/innen, Maja Figge, Konstanze Hanitzsch, Sven Glawion, Florian Kappeler und Nadine Teuber, die alle Doktoranden/innen des Graduiertenkollegs "Geschlecht als Wissenskategorie" waren oder sind, ist es gelungen, einen weiten thematischen Bogen zu schlagen, unter dem Schauplätze wie Familie, Religion, Justiz, Psychoanalyse, Sex und Politik beleuchtet wurden.

Die Literaturwissenschaftlerin INGE STEPHAN (Berlin) eröffnete die Konferenz mit dem Vortrag: „Verwischte Spuren – Nachbilder der Shoah als Kryptogramm in Texten von Autorinnen“. Darin untersuchte sie die Auseinandersetzung mit der Shoah in Judith Herrmanns Erzählung Rote Korallen und zeigte, wie Scham und Schuld über die Thematisierung von Sexualität ‚verdeckt‘ bearbeitet werden. Im Anschluss daran hielt die Kunsthistorikerin KATHRIN HOFFMANN-CURTIUS (Berlin) einen Vortrag zu „Deutschen Denkmalpolitiken nach 1945“, in dem sie sich anhand einzelner Denkmäler der frühen Nachkriegszeit und der ihre Errichtung begleitenden öffentliche Debatten mit der Frage nach der Repräsentation von Schuld zwischen tradiertem Heldenbild und eingeübter Opfervorstellung beschäftigte.

Der Sozialwissenschaftler JAN LOHL (Hannover) eröffnete das Panel 1 unter dem Titel „Wissensarchiv Psychoanalyse“ mit seinem Vortrag „Zur Geschlechtsspezifik transgenerationeller Identifizierungen“. Er ging der Frage nach, wie sich Schuld bzw. Schuldgefühle an die Kinder von NS-Mitläufern übertragen. Kinder geraten, so Lohl, häufig in die Position einer „narzisstischen Funktionalisierung“ durch die Eltern, die auch im Kontext einer kollektiven Schuldabwehr zu sehen sei. Kinder ihrerseits entwickeln einen „inneren Sinn“ (Buchholz) für die Abwehrreaktionen ihrer Eltern, wobei deren Schuld als eigene empfunden werde. Wirksam sei hier oftmals eine gleichgeschlechtliche Linie der Identifizierung. KATHARINA OBENS, Psychologin aus Berlin, thematisierte eine ähnliche Frage. Sie untersuchte in einer Re-analyse Interviews aus (sozialwissenschaftlichen) Studien, die vor allem die Übertragungen von Schuldgefühlen auf die Enkelgeneration zum Gegenstand hatten. Es gebe, so Obens, eine generelle Tendenz, Schamgefühle in Schuldgefühle umzudeuten, und auch Scham nicht in ihrem eigenen Charakter, sondern als Folge von Schuld zu thematisieren. Den Abschluss des Panels bildete erstes Material aus einem Film mit dem Titel “Liebe Geschichte. Nationalsozialismus im Leben der Nachkommen von Täter/innen“. Basis des Films sind Interviews, welche die Filmemacherinnen SIMONE BADER und JO SCHMEISER (Klub Zwei, Wien) mit Frauen aus der DDR, Westdeutschland und Österreich führten. Als ein Leitmotiv erwies sich die Frage, ob die persönliche Betroffenheit oder das generelle Bewusstsein, in einer Post-NS-Gesellschaft zu leben, gleichermaßen intensive Auseinandersetzungen bewirken kann.

Um Geschlechtercodierungen im juristischen Diskurs ging es in dem Panel 2, „Iustitia“. SIMONE ERPEL (Berlin) ging anhand literarischer und visueller Narrationen über NS-Täterschaft der Herstellung von Geschlechterbildern im juristischen Kontext nach. LJILJANA HEISE (Berlin) fragte am Beispiel des Prozesses der KZ-Aufseherin Greta Bösel, mit welchen Strategien Unschuld inszeniert und inwieweit die Kategorie Geschlecht zur Entschuldung genutzt wurde. JEANETTE TOUSSAINT (Potsdam) untersuchte abschließend, wie Frauen über ihre Dienstzeit in den Lagern Auschwitz und Majdanek (nicht) gesprochen haben und welcher Bedeutung hier Geschlecht in Bezug auf Scham und Schuld zukommt.

Der Samstag begann mit zwei umfangreichen Keynote-Vorträgen. Die Philosophin HILGE LANDWEER (Berlin) theoretisierte die Unterscheidung von Scham, Beschämung und Zorn und die Literaturwissenschaftlerin BIRGIT DAHLKE (Berlin) analysierte in ihrer medientheoretisch informierten Lesart zu Jonathan Littells Roman „Les Bienveillantes“ den „Überschreitungsroman“ zwischen Pornographie, Verweiblichungsbegehren, Homosexualität und Misogynie als Symbolisierungsstrategie von verweiblichter Scham.

Konzentrierte Literaturwissenschaft bot das Panel 3, „Schuld und Sühne. Geschlechtercodes der Religionen“. MIRJAM BITTER (Gießen), TIM LÖRKE (Heidelberg) und NAOMI SCHULMAN (Berkeley) untersuchten in ihren Lesarten zu Alessandro Pipernos Roman „Con le peggiori intenzioni“, Ulla Berkéwicz’ “Engel sind schwarz und weiß“ und Paul Celans “Nah, im Aortenbogen“ wie religiöse Codierungen von Geschlecht in literarischen Texten aufgenommen, instrumentalisiert und gewendet werden, um Täter/innen- und Opferpositionen in Bezug auf die Shoah zu thematisieren und bedeutsam zu machen. So stellt z.B. Ulla Berkèwicz einen problematischen Zusammenhang von Opferschaft, Weiblichkeit und Frömmigkeit her, dem ‚dunkle‘, männliche Täter gegenübergestellt werden. Letztere werden als verweiblicht dargestellt, insofern sie sich mit ihren Verbrechen konfrontieren.

Im Zentrum der drei Beiträge im Panel 4 „Vater, Mutter, Kind – und Schuld“ stand die Frage nach der Verknüpfung von Täter/innenschaft und Familienkonstellationen in der Auseinandersetzung der nachfolgenden Generationen mit Nationalsozialismus und Shoah. Diese Frage wurde entlang sehr unterschiedlicher Gegenstände verhandelt: Während MARGIT REITER (Zeitgeschichte, Wien) über die in der NS-Nachfolgegeneration kursierenden Vater- und Mutterbilder sprach und auf die stereotypen Wissensbestände des aktiven Tätervaters und der passiven Mutter als Gesinnungstäterin hinwies, setzte JULIA FREYTAG (Literaturwissenschaft, Hamburg) bei aktuellen Familienromanen an und stellte eine Verbindung zwischen dem sich hier artikulierenden Familiengedächtnis und den mythologischen Figuren 'Elektra' und 'Ödipus' sowie deren Verarbeitungen in der Freudschen Psychoanalyse her. Einen gänzlich anderen Zugang wählte IRENE BERKEL (Kulturwissenschaft, Bochum/Innsbruck). Sie zeigte Gemeinsamkeiten in der Konstruktion des nationalsozialistischen Täters in Luchino Viscontis Film “Die Verdammten“ (1969) und Jonathan Littells Roman “Die Wohlgesinnten“ (2008) auf. In beiden werde die Familie als Inzest- und Schuldzusammenhang dargestellt, die ein Tätersubjekt mit diffuser sexueller Identität hervorbringt und damit die Grundlage des Naziregime bildet. Trotz der sehr heterogenen Gegenstände wurde in der gemeinsamen Diskussion die große Bedeutung des genealogischen Erzählens deutlich.

Die These, dass Sexualität und Politik gerade im Nationalsozialismus eine enge Konfiguration eingingen, ist mit Dagmar Herzogs Buch „Die Politisierung der Lust“ neu zur Debatte gestellt worden. Herzog schreibt dem NS bezüglich sexueller Fragen sowohl eine Fortsetzung libertärer als auch konservativer Tendenzen zu. Der Sozialpsychologe SEBASTIAN WINTER (Hannover) schloss sich im Panel 5 „Sex und Politik. Die Shoah zwischen Privatheit und Öffentlichkeit“ diesen Thesen in vielen Punkten an, kritisierte jedoch die Unterscheidung ‚freier‘ versus ‚unterdrückter‘ Sexualität angesichts der inhaltlichen Spezifik von durch den NS geförderten bzw. verfolgten Formen der Sexualität als unzureichend. Die Historikerin REGINA MÜHLHÄUSER (Hamburg) bezog sich in ihrem Vortrag auf Debatten über die Vergewaltigungen deutscher Frauen durch Soldaten der Roten Armee und machte darauf aufmerksam, dass im Gegensatz dazu die massiven Akte sexualisierter Gewalt gegenüber Sowjetbürger/innen durch Deutsche – auch in der Wissenschaft – entweder gar nicht thematisiert oder als Liebesbeziehungen verklärt werden. Die Gender-Wissenschaftlerin SABINE GRENZ von der Universität Göteborg widmete sich der Reflexion des NS durch Frauen unmittelbar nach 1945 anhand der fragmentarischen Form des Tagebuchs. Gerade an diesem zentralen historischen Einschnitt ließ sich gut beobachten, wie „archiviertes Familienwissen“ nicht nur dar-, sondern auch hergestellt wird: So wurden in den Tagebüchern selbst affirmative Haltungen zum NS bereits wenige Wochen nach der deutschen Kapitulation durch die eigene Inszenierung als Opfer des Regimes ersetzt.

Die Konferenz endete mit einem Podium, auf dem die Religionswissenschaftlerinnen SUSANNE LANWERD (Basel) und INSA ESCHEBACH (Leiterin der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück in Fürstenberg/Havel) sowie der Psychoanalytiker KURT GRÜNBERG (Frankfurt/Main) miteinander diskutieren. Zu Beginn gab die Kulturwissenschaftlerin DOROTHEA DORNHOF (Berlin, Frankfurt/Oder) eine Einführung in deutsch-deutsche Erinnerungspolitiken an die Shoah und moderierte das anschließende Gespräch, in dem besonders über die Verwendung der Begriffe ‚Opfer‘ und ‚Täter‘ äußerst kontrovers debattiert wurde: Besteht nicht die Gefahr, dass in heterogenen und ambivalenten Situierungen solcher Positionen der entscheidende Unterschied insbesondere jüdischer und deutscher Erfahrungen verschwindet? Auch darin zeigte sich die Aktualität und Brisanz des Tagungsthemas.

In den einzelnen Beiträgen wurden mit literatur- und kulturwissenschaftlichen, historischen oder psychoanalytischen Ansätzen die die geschlechtliche Codierung von Erinnerung und die Bedeutung von Gender im Gedenken an die Shoah hinterfragt. Damit ging die Konferenz über die Frauenforschung zum Nationalsozialismus hinaus und lässt sich im Forschungsfeld zu „Gedächtnis und Geschlecht“1 verorten, das die Wirkungsweisen von geschlechtlichen Codierungen in der deutschen Erinnerungskultur/-politik untersucht.

Konferenzübersicht:

Keynotes

Inge Stephan (Berlin): Verwischte Spuren – Nachbilder der Shoah als Kryptogramm in Texten von Autorinnen

Kathrin Hoffmann-Curtius (Berlin): Deutsche Denkmalpolitiken nach 1945

Hilge Landweer (Berlin): Scham, Beschämung, Zorn. Zur Dynamik von Gefühlssanktionen

Birgit Dahlke (Berlin): Nuda Veritas? Zum Effekt des Pornographischen in Jonathan Littells Roman Les Bienveillantes

Panel 1: Wissensarchiv Psychoanalyse

Jan Lohl (Hannover): Zur Geschlechtsspezifik transgenerationeller Identifizierungen

Katharina Obens (Berlin): Zeit der Scham? Eine Reanalyse sozialwissenschaftlicher Forschung zu Schuld- oder Schamgefühlen in der 3. Generation der Täter- und Mitläufer

Klub Zwei (Simone Bader und Jo Schmeiser, Wien): Liebe Geschichte. Nationalsozialismus im Leben der Nachkommen von Täter/-innen

Panel 2: Iustitia

Simone Erpel (Berlin): „Sex and Crime“ – Geschlechterordnung in literarischen und visuellen Narrationen über NS-Täterschaft

Ljiljana Heise (Berlin): Eine KZ-Aufseherin im ersten Ravensbrück-Prozess. Greta Bösel – „another of those brutal types of women“?

Jeanette Toussaint (Potsdam): Die halbe Wahrheit. Das Verschweigen von Auschwitz und Majdanek in den Lebensläufen ehemaliger SS-Aufseherinnen

Panel 3: Schuld und Sühne. Geschlechtercodes der Religionen

Mirjam Bitter (Gießen): „Mister Holocaust 1989“ und die göttliche Gaia. Verhandlung von Scham und Erbsünde in Alessandro Pipernos Roman Con le peggiori intenzioni

Tim Lörke (Heidelberg): Geschlecht und Heilsgeschichte: Ulla Berkéwicz’ Roman Engel sind schwarz und weiß

Naomi Shulman (Berkeley/Berlin): Paul Celan’s Poetics of Doubt: An Examination of Nah, im Aortenbogen

Panel 4: Vater, Mutter, Kind – und Schuld

Margit Reiter (Wien): Vaterbilder und Mutterbilder. Geschlechtsspezifische Vorstellungen und Zuschreibungen von Täterschaft und Schuld im Familiengedächtnis

Julia Freytag (Hamburg): Elektra und Ödipus. Familien-Fluch, Scham und Schuld in den Familienromanen der Gegenwart

Irene Berkel (Berlin): Genealogie als Inzest- und Schuldzusammenhang. Die Konstruktion des Täters in Luchino Viscontis Die Verdamm-ten (1969) und Jonathan Littells Roman Die Wohlgesinnten (2008)

Panel 5: Sex und Politik. Die Shoah zwischen Privatheit und Öffentlichkeit

Sebastian Winter (Hannover): Zwischen ‚natürlicher Liebe’, ‚schwüler Erotik’ und ‚Heiligkeit der Ehe’ (West-)Deutsche Sexualitätsentwürfe vor und nach 1945

Regina Mühlhäuser (Hamburg): Zwischen Tabu und Voyeurismus. Der Umgang mit sexueller Gewalt nach 1945

Sabine Grenz (Göteborg): Tagebuchaufzeichnungen ‘deutscher’ Frauen im NS und der unmittelbaren Nachkriegszeit: Auf der Suche nach Scham und Schuld in Familienarchiven.

Podiumsdiskussion
Insa Eschebach (KZ-Gedenkstätte Ravensbrück, Fürstenberg/Havel), Kurt Grünberg (Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt/Main), Susanne Lanwerd (Berlin/Basel)
Input: Dorothea Dornhof (Berlin, Frankfurt/Oder)

Anmerkung:
1 So der Titel eines von Dr. Insa Eschebach, Prof. Dr. Sigrid Jacobeit und Prof. Dr. Silke Wenk herausgegebenen Sammelbandes. Eschebach, Insa et al. (Hg.): Gedächtnis und Geschlecht: Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids, Frankfurt/ Main: Campus 2002.